Auf der documenta muss man ja mit allem rechnen. Daher erscheint es zunächst auch nicht weiter verwunderlich, wenn man an einem Schild vorbeiläuft, das lebendige Wesen und leblose Dinge ankündigt, gemacht und nicht gemacht. Gegensätze gehören für den documenta-Besucher gewissermaßen zur Erwartungshaltung; Gegensätze zum „normalen“ Leben ebenso wie Gegensätze in sich selbst. Das Kunstwerk, das sich selbst widerspricht. Widersprüchliches, und auch ein bisschen Verrücktes, das ist die Normalität auf der documenta.
Maße und Dauer seien variabel, führt das Schild weiter aus. Pierre Huyghe schafft es mit „Untilled“ (dt. „unkultiviert“) tatsächlich, mich neugierig zu machen. Also stiefele ich in das kleine Wäldchen, um wenig später vor einer Baustelle zu stehen. Okaaaaayyyy. Ein weiteres Schild legt dem Besucher nahe, nicht vom rechten Weg abzuweichen, also nicht mitten hindurch zu spazieren. Was das bedeutet, wird mir erst viel später klar werden. Es ist jedenfalls ein Hinweis, den man nicht leichtfertig ignorieren sollte.
Das Wort „unkultiviert“ ist eine Übersetzung des englischen Titels „untilled“, und LEO führt noch „unbebaut“ und „unbeackert“ als Übersetzungen auf. Aber mir gefällt unkultiviert gerade deswegen am besten, weil es im Deutschen so herrlich mehrdeutig ist. Denn einfach ein paar Steine hinzukippen und das ganze Kunst zu nennen, das ist mal wieder typisch. Aber wie gesagt, zu früh gefreut, es kommt noch anders, besser.
Zunächst aber gilt es, den Rubikon zu überschreiten, und dies wiederum im doppelten Wortsinne. Denn da rechts ist eine große Pfütze. Alternativ muss man sich überwinden, die Baustelle mit vielen kleinen Pfützen zu durchwaten, und das trotz der Rotkäppchen-Warnung. Das Wetter hat es in den letzten Tagen wirklich gut mit der belebten Natur gemeint. Ich entschließe mich, den anderen Besuchern zu folgen und wähle den weniger feuchten Weg. Die symbolischen Würfel sind also gefallen, die steinernen blieben aber gottseidank an Ort und Stelle.
Im Anschluss an die wackeligen Steine bleibt nur, entweder den ganzen verrückten Weg wieder zurückzugehen, oder in den sauren Apfel zu beißen und sich die Schuhe nass zu machen. Ein saurer Apfel wäre mir wahrhaftig lieber gewesen, aber weit und breit war keine Schlange zu sehen, die mir einen hätte reichen können. Also Augen auf und durch. PLATSCH!
Wie? War das jetzt alles? Durch eine Baustelle klettern und Kunst erleben? Etwas unbefriedigend war das ja schon, aber bisher hat alles gepasst. Belebt (Pfütze und Erdhaufen) und unbelebt (Steine), gemacht (Steine) und nicht gemacht (Pfütze und Erdhaufen). Aber als nunmehr halbwegs erfahrener documenta-Besucher fühle ich, dass das noch nicht alles gewesen sein kann. Also nochmal weiter um den Erdhügel herum, und da plötzlich offenbart sich die wahre Kunst (letztes Bild)! Ein weiteres Schild warnt „Please do not enter! Thank you!“ und in der Tat hat man nach dem ersten Blick auch keine große Lust mehr, weiterzugehen. Eine steinerne nackte Frau, die sich lasziv auf einem Sockel räkelt, ihr Kopf ein Bienenstock. Jetzt weiß ich, warum ich nicht mitten hindurch gehen sollte. Belebt und unbelebt, gemacht und nicht gemacht. Passt.
Geo: N51.29818, E9.49334
Erstveröffentlichung auf Nordhessen-Rundschau am 23.06.2012