Weniger ist mehr

„Wenn weniger mehr ist, ist nichts dann alles?“ — Rem Kohlhaas (Zitat gefunden auf kwerfeldein)

Was hat dieser Ausspruch für eine Bedeutung? So widersprüchlich er ist, so innerlich logisch ist er dennoch. „Weniger ist mehr“ ist so einer der Aussprüche, die wir uns auf der Zunge zergehen lassen sollten, bevor sich uns ihre Bedeutung erschließt. Wie das berühmte „Ausnahmen bestätigen die Regel“, was ich übrigens in meinem ganzen Leben noch nicht verstanden habe. Interessanterweise habe ich auch noch niemanden getroffen, dessen Erklärungsversuche über die bloße Wiederholung hinausgegangen wären.

Was also bedeuten solche Gegensätze? Was bedeuten sie für mich?

In der Firma diskutieren wir oft über etwas, das ich „das Gegenteil-Prinzip“ genannt habe. Es beruht auf der Beobachtung, dass sehr oft — eigentlich fast immer — das Gegenteil dessen passiert, was man sich mit allem Nachdruck wünscht. Aus welchen Gründen das so ist, weiß ich nicht. Manchmal scheint es am Gegenüber zu hängen, welches stets etwas anderes will. Der Chef, um seine Macht zu demonstrieren. Der Ehepartner, um zu zeigen, wer hier das Sagen hat. Es mag aber auch mit Kommunikationsproblemen zusammenhängen, damit, dass man einander einfach nicht immer versteht. Genau genommen nur selten wirklich versteht.

Friedemann Schulz von Thun legt mit seinem Vier-Ohren-Modell vielleicht den Grundstein des Verständnisses. Der scheinbare Widerspruch auf der Sachebene bekommt mehr Sinn, wenn man ihn auf die Bedeutungsebene verlegt. Googles Einstiegsseite hob sich seinerzeit wohltuend von dem überladenen Geflacker bestehender Portale ab, deren vordergründiger Sinn es vorgeblich war, dem Besucher auf einen Blick möglichst viele Informationen zu bieten. Sachlich gesehen war aber wohl der einzige Sinn, möglichst viele Werbekunden zu bekommen, an deren Klicks man verdienen konnte. Hier ist es wohl die Sachebene, die uns den eigentlichen Sinn aufzeigt. Betrachtet man solche Probleme also auf mehr als nur einer Ebene, kann man ihnen unter Umständen eine tiefere Bedeutung entlocken. Manch einer hat sich damals schon gefragt, wie Google das alles finanziert, wo doch „jeder weiß“ (auch so ein Allgemeinplatz), dass ohne Werbung nichts geht. Heute (d.h. seit den Enthüllungen Edward Snowdens) fragt man sich, ob der Hauptsponsor vielleicht schon damals eine Regierungsorganisation war.

Webseiten übrigens können auch auf der Ebene der Selbstoffenbarung sehr beredt sein. Ich kannte einen Fotofreund (Gott hab ihn selig), dessen Webseiten im Grunde seine unorganisierte und chaotische Art widergespiegelt haben. Aber ich schweife ab.

Warum schreibe ich das in einem Blog, das sich doch vordringlich mit Fotografie beschäftigen will?

Ich meine, dass auch Fotos mehrere dieser Ebenen haben. Da ist zum Einen die rein sachliche Darstellung des gesehenen. Diese findet ihre Grenze bereits in der fotografischen Reproduktion, die niemals „exakt“ sein kann. Es ist immer nur ein begrenzter Wellenlängenbereich, der auf dem Film oder Chip abgebildet werden kann. Aber auch der Blickwinkel begrenzt das Abbild, der wiederum von der verwendeten Technik (Objektiv-Brennweite und Film-/Chipgröße) abhängig ist.

Dann ist da der zeitliche Aspekt. Ein Foto ist naturgemäß eine Momentaufnahme. Es stellt einen winzigen Ausschnitt aus der Wirklichkeit dar, sowohl wie eben dargelegt räumlich, als auch zeitlich. Das gilt auch für eine Meinungsäußerung: Sie spiegelt meistens das sehr punktuelle Empfinden der Person rüber, und die kann in wenigen Sekunden/Stunden/Tagen bereits völlig anders aussehen. Besonders wenn Entscheidungen zu treffen sind, habe ich den Eindruck, dass viele Leute diese Entscheidung aus der Situation heraus treffen. Natürlich kann man nicht nur auf der Grundlage des aktuellen Wissens entscheiden. Man kann auch auf der Grundlage der aktuellen Genervtheit eine Entscheidung treffen, quasi ein „was muss ich tun, damit ich dieses Problem möglichst schnell los werde“.

Das mag sowohl der Grund für seltsame Fotos sein, wie auch für seltsame Verhaltensweisen. Später, wenn man länger über den Vorschlag nachgedacht hat, ist er vielleicht doch verlockender als zu Beginn. Aber dann ist schon längst vergessen, wer ihn ursprünglich vorgebracht hat.

Weniger ist mehr, das gilt auch für den Gedächtnispalast, jedenfalls wenn man Sherlock Holmes und dem Mentalisten Patrick Jane glauben kann.

Blauer Himmel, Schneedecke, Baum

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