Sanft gleitet die Peter Pan durch die nicht vorhandene Dünung. Das kaum wahrnehmbare Auf und Ab wirkt eher einschläfernd als dass es Unbehagen verursacht. Mit der Fähre von TT-Line sind wir um 10 Uhr nach Trelleborg in Südschweden aufgebrochen. Nach der Ankunft gegen 17:30 Uhr werden wir noch ein paar Stunden fahren müssen, bis wir uns in unserem Ferienhaus entspannen können.
Inzwischen weichen die beiden Uferlinien der Lübecker Bucht immer weiter zurück, doch die Internetverbindung hält sich hartnäckig. So kann ich den Lieben zuhause schon die ersten Fotos in die Dropbox legen. Auch wenn ich den Eindruck habe, im Nichts zu schweben, scheint die Zivilisation doch noch irgendwo dort draußen zu sein. Mal sehen, wie lange noch. Und schwupps ist es weg. WLAN gibt es auch an Bord. Auf dem Boardingpass steht eine Nummer, die man zum Einloggen verwenden kann. Den haben wir jedoch praktischerweise abgeben müssen, als wir mit dem Auto auf die Fähre gefahren sind. Aber die Rezeption hat unbürokratisch weitergeholfen. Spontan ist nun auch das Handynetz wieder da.
Die See ist glatt, die leichten Bewegungen auf der Wasseroberfläche kann man kaum „Wellen“ nennen. Dennoch geht ein zittern durch den Rumpf. Aufgrund der Frequenz vermute ich jedoch eher den Schiffsdiesel als Ursache dafür. Vereinzelt tauchen kleine weiße Segel in der Ferne auf. Wäre da nicht das permanente Gequatsche in „Zehn Vorne“ (die Panorama-Bar, die hier eher ein „Sieben Vorne“ wäre), würde die Szenerie wahrhaft zum Nachdenken anregen. So schwirren die Gedanken ständig zwischen dem „Meer der Ruhe“ draußen und dem „Ort der Hektik“ hier drin hin und her. Mangels echtem Abschalten versuche ich, zwischen Googles „MyTracks“ und dem Horizont hin und herspringend die wenigen Flecken in der Ferne dem Kartenmaterial zuzuordnen. Viel ist es in der Tat nicht, was man da draußen erkennen kann, aber es ist auch mehr als nichts. Momentan scheint leicht Steuerbord (also rechts, so langsam lerne ich es) die Küste vor Rostock vorbeizuziehen, an deren Nordrand der Ort Kühlungsborn liegt, den irgendwie auch fast jeder zu kennen scheint.
Die Frau, die hinter mir sitzt, hat die seltene Gabe, ununterbrochen zu reden. Seit bestimmt einer Stunde bestreitet sie die „Unterhaltung“ am Nebentisch sicher zu 99,9 % allein. Ihren beiden Begleitern bleiben bestenfalls Lautäußerungen wie „Ja“ oder „Hmm“, zu mehr reicht die Zeit beim Luftholen einfach nicht. Sätze ohne Punkt und Komma reihen sich aneinander, kaum dass man in der Lage ist, deren Sinn zu erfassen. Sofern überhaupt einer existiert. Nun habe ich mich auf einen anderen Platz gesetzt, was den Wasserfall der Worte etwas erträglicher macht. Eine „Gesprächspartnerin“ hat sich soeben verabschiedet, und der bedauernswerte verbleibende Herr muss nun die ganze rhetorische Gewalt weiterhin aushalten. Nun scheint eine kleine Pause zu entstehen. Sie isst etwas. Doch halt, nein, was höre ich da? Nicht einmal beim Essen verstummt die Sendestation, die sicherlich dafür verantwortlich ist, dass meine Mobilfunkverbindung sehr instabil geworden ist. Computer sind ja auch nur Menschen.
Nach einem entspannenden Mittagessen gehen wir nochmal an Deck und stellen fest, dass das Wetter sich ordentlich abgekühlt hat. Es ist immer noch angenehm warm, aber nicht mehr so drückend heiß wie bei der Abfahrt in Travemünde. Einige Passagiere hat die Müdigkeit inzwischen übermannt (oder sagt man dabei nun auch „überfraut“?), sie liegen an Deck auf dem Boden oder Bänken und stören sich nicht an den über sie hinwegstaksenden Mitreisenden.
Wir verlassen langsam endgültig den deutschen Mobilfunkbereich. Der Diesel dröhnt auf dem Sonnendeck mit 78 db(A) in einem fast unangenehmen Frequenzbereich. Man fühlt die Kraft geradezu im Magen, und das nicht wegen des Mittagessens oder der Seekrankheit. Wir sitzen in Liegestühlen genau zwischen den beiden Schornsteinen, und vielleicht lässt uns eine Schwebung alle zuvor empfundene Ruhe vergessen, die wir dem Meer angedichtet haben. Der Liebe zum Meer, ist sie oft eher eine poetische als eine reale Zuneigung, tut dieses Geräusch keinen Abbruch. Schließlich nenne ich mich „Sehfahrer“. Auch wenn das „h“ einen guten Grund hat, leugne ich die Faszination keineswegs, die die See auf mich ausübt.
Nachdem wir wieder in die Lounge zurückgekehrt sind, nimmt dort ein Live-Musiker seine Arbeit auf. Ich bin froh, dass es keine typische Gute-Laune-Musik ist; Leonard Cohen und die Zeit der Friedensbewegung bestimmen klar sein Repertoire. Das ist genau das richtige nach dem Mittagessen und bei einem ordentlichen Kaffee. Es folgt „The answer is blowing in the wind“ in einer sehr persönlichen, individuellen Performance, ein Stück das ich seit den 70ern nicht mehr live gehört habe. Auch „Halleluja“ bekommt durch seine Interpretation einen sehr angenehmen, beruhigenden, ja melancholischen Touch. Nicht einmal das zwischenzeitlich einsetzende Kindergeschrei schafft es, diese Stimmung zu zerstören. Dann wird es etwas fetziger, aber nur ein wenig. „Ring of fire“, aber so ganz anders als von Johnny Cash. Nach der Pause wird es wieder versöhnlicher. Summertime, Purple Rain, In the Ghetto, Son of the Preacherman … spätestens jetzt wird klar, welche Zeit den Sänger inspiriert hat.
Und dann hat er es doch noch geschafft, dass ich eingeschlafen bin. Um 3 Uhr in der Früh aufzustehen fordert seinen Tribut. Nun ist es nur noch knapp über eine Stunde bis zur Ankunft in Trelleborg. Ich werde mal besser meine Frau suchen. Die wollte gleich wiederkommen. Der Kaffee ist inzwischen kalt.