In einem Zeitalter, wo technik-affine Menschen zunehmend auf gedruckte Bücher verzichten und lieber das eBook auf dem Smartie oder Tablet lesen, sehe ich mein Bücherregal an und frage mich, welches von den hypermodernen eBooks wohl in 100 Jahren noch lesbar sein wird.
Dieser Artikel erschien zuerst am 12. März 2017 in der Nordhessen-Rundschau.
Ein eBook (manche schreiben es auch „E-Book“) ist eigentlich kein Buch im historisch-wörtlichen Sinne. Es wurde nie „gedruckt“, es besteht nur aus Daten. Im technischen Sinne ist ein eBook eine gepackte Variante einer Website. Seine Kapitel sind Dateien mit zahllosen HTML-Tags, seine Layoutanweisung ist ein CSS, und der Inhalt oft flüchtig. Manchmal gilt dies auch für den Leser. Denn allzu schnell werden scheinbar wichtige Dinge als eBook „verlegt“ und mit überschwänglichen Worten angepriesen, die sich im Nachhinein doch als Luftnummer ausweisen. So auch eines der ersten eBooks, das ich für 1 € erwarb (der geringe Preis schien mir das Risiko wert zu sein). Der „Klappentext“ versprach höchstes Lustempfinden ob der erotischen Schilderung im Innern des „Buches“. Es war mitnichten eine solche, ganz im Gegenteil ein Langweiler erster Klasse, was wohl noch das beste ist, das ich über diesen „erotischen Bestseller“ zum besten zu geben hätte. Möglicherweise war es genau dies: Ein Best-Seller. Bestens verkauft, aber keineswegs bestens gelungen.
EBooks — vielleicht ist es ein Hype, vielleicht auch eine von einer verborgenen Macht gesteuerte Entwicklung, um uns leichter manipulierbar zu machen. Im Buchladen hätte ich mich für einen Moment in eine Leseecke verzogen und ein wenig verschämt in diesem vielversprechenden Buch geblättert. Ich hätte verschiedene Kapitel angelesen, um mich in Stimmung zu bringen. Sei es die versprochene erotische Stimmung oder die, das Buch zu kaufen. Doch beim eBook kann ich nur darauf vertrauen, dass die Sorgfalt, die der Autor der Ankündigung angedeihen ließ, die gleiche war, die er auch im Innern der Geschichte an den Tag gelegt hat.
Wer weiß schon, wie das alles in Wahrheit funktioniert, das ist ja im Grunde alles Neuland für uns. Man könnte ja, bei der inzwischen allgegenwärtigen Vernetzung, nur versprochen bekommen, durch den Kauf ein echtes eBook zu erwerben und auf das Tablet zu laden. In Wahrheit nimmt der eBook-Reader (auch so ein komisches Wort, der „reader“ ist doch eigentlich ein „Leser“, also der Mensch!) vielleicht im Hintergrund Kontakt mit einem Server in der Cloud (im wörtlichen Sinne nebulös wie so vieles inzwischen) auf und bittet diese um den aktuellen Stand des Textes. Der könnte inzwischen den geänderten politischen Verhältnissen angepasst worden sein, wie es George Orwell in „1984“ treffend beschrieben hat. Davon merkte der Leser nichts, und im Grunde interessiert es die meisten auch nicht. Hauptsache XXX-Online ist immer und überall verfügbar und ich kann mein eBook an genau der Stelle wieder aufschlagen, wo ich es zuletzt hinterlassen habe. Wer sollte sich schon für meine Lesegewohnheiten interessieren oder mich — ausgerechnet mich! — zu manipulieren wagen?
Vielleicht ist das Problem auch viel einfacher und kommt ganz ohne Verschwörungstheorien aus: Das heute übliche Format für eBooks ist vielleicht in einigen Jahrzehnten vollkommen obsolet. Und wenn es immer weniger eBook-taugliche „Reader“ gibt, dann wird eines fernen Tages dieses einmalige Werk nicht mehr wahrnehmbar sein.
Technisch, hart, kalt und emotionslos das eBook. Wie anders dagegen die Haptik eines echten Buches! Gedruckt und gebunden, vielleicht sogar von Menschenhand. Der raue Einband, der sich griffig in meine Hände schmiegt, das leichte Knistern, wenn ich es aufschlage. Wie es widerspenstig zu verhindern sucht, dass ich die Seite mit dem sorgfältig gestalteten Lesezeichen öffne, als ob es diesen Moment der Macht auskosten wollte, die es über mich hat. Suche ich dann die Stelle, an der ich zuletzt zu lesen aufgehört habe, verfalle ich oft genug dem Zwang des Zurückblätterns, um den Faden der Erzählung wieder aufzunehmen. Allmählich kommt mir der Handlungsstrang wieder zu Bewusstsein, ich fühle mich in die Geschichte hinein, bis ich wieder ganz in ihr versunken bin. Die Gestalten nehmen erneut Gestalt an. Sie entspringen freilich meiner Phantasie, angeregt durch die Erzählungen, doch erscheinen sie dank der Macht der Vorstellung bisweilen real wie echte Erinnerungen.
Das alte Buch mit dem blauen Einband ist aber kein Roman, kein Gedichtband, nicht einmal eine Erzählung. Es ist ein Rezeptbuch, das mich fasziniert, weil es zugleich die Geschichte seiner Entstehung erzählt. Bis es zum ersten Rezept gelangt, vergehen sage und schreibe achtunddreißig Seiten! Wie viel Liebe der Autor in das Thema der Kreation leckerer „Bowlen und Pünsche“ (so der Titel) gelegt hat, mag sich nicht vorstellen können, wer dieses Buch nicht in den Händen gehalten hat.
Die Rezepte selbst sind keineswegs lapidare Aufzählungen, sondern lebendige kleine Geschichten im Stile man nehme, man füge hinzu, man ergänze. Oft beschreibt das Rezept detailliert den Prozess der Vorbereitung, ergänzt um Abarten der Zutaten, Varianten der Herstellung und Varianten von Varianten und deren Varianten. Sprachlich eloquent ist es, angenehm zu lesen, und ob der Vorfreude auf das Ergebnis bei der Zubereitung bereits voller Ungeduld mit dem Magen knurrend, lässt es mich ein wenig die Stimmung der fröhlichen Runde nachempfinden. Dass dabei manchmal die exakten Mengenangaben auf der Strecke bleiben, mag dem Umstand geschuldet sein, dass die Niederschrift der Rezepturen gelegentlich beim Mixen selbst erfolgte. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man dabei oft nach Gefühl und kaum nach Rezeptbuch vorgeht, getreu dem Motto „Der Geschmack heiligt die Zutaten“.
Und in der Tat, das Buch ist aus dem Jahre 1926, also wahrhaft beinahe ein Jahrhundert alt! Der Anlass selbst ist sogar noch ein wenig älter. In der mir vorliegenden 4. Auflage erzählt das Buch die Geschichte einer auf dem Brocken eingeschneiten Silvestergesellschaft, die der Redaktion des Weberschen Universallexikons der Kochkunst ein Telegramm mit dem Rezept eines „recht guten Silvesterpunsches“ übersandte. Ein Jahr später dann trafen sich alle wieder auf dem Brocken und sammelten fortan alle Rezepte, derer sie habhaft werden konnten. So entstand dieses wahrlich ungewöhnliche Rezeptbüchlein, dem ich die 117 Jahre alte Geschichte entnommen habe, und dessen ich jetzt, da ich selbst auf dem Brocken verweile, bei einem Glas guten Glühweins gedenke.