Der Blick aus dem Fenster des Airbus A321 vermittelt immer wieder Reinhard Meys Stimmung aus „Über den Wolken“, die ich erst zu verstehen begann, als ich zum ersten mal in einem Flugzeug saß. Es ist ein endloses Meer von Weiß, dessen unentwegt sich verändernde Formen den Blick immer auf’s Neue an anderer Stelle fesselt. Mittendrin in dem scheinbar regelmäßigen Wolkenmeer türmt sich ein winziger Berg aus weißem Flausch. Was auch immer sich darunter verbirgt, wird während des Fluges nicht verraten. Erst vereinzelte, dann immer mehr Bergspitzen tauchen aus dem weißen Meer auf, sich durch ihre scharfen Kontraste von der umgebenden Weichheit abhebend. Schneebedeckte Berghänge in einem Meer von weichgezeichneter Natur.
Mittwoch, 01:00 h. Der sicherheitshalber gestellte Wecker wird von meiner Frau um genau 10 Minuten geschlagen, die mir einen Kaffee ans Bett bringt. Fast sofort bin ich wach; die Vorfreude auf anderthalb Wochen Entspannung sorgt dafür, dass die Müdigkeit keine Chance hat. Nach wenigen Vorbereitungen geht es los. Alles ist bereits eingepackt, wir haben keine Kommode vergessen mitzunehmen, auf der die Flugtickets liegen.
Die Anreise zum Flughafen Düsseldorf bei nächtlich-gutem Wetter ging recht flott und ereignislos vonstatten, ebenso das Checkin. Der Flug holperte lediglich in der Sinkflugphase vor Heraklion etwas. „Das ist doch gar nichts“ beruhigt ein junger Mitreisender seine Freundin. Er hat in seinem langen Leben sicher schon Schlimmeres erlebt.
Die Gepäckausgabe und die durch pure Abwesenheit glänzende Zollkontrolle verlief ebenfalls reibungslos, doch das Abholen des vorbestellten Mietwagens erwuchs sich zu einer Geduldsprobe. Bestimmt eine komplette Stunde verbrachten wir mit dem Abarbeiten einer vielleicht 8 Meter langen Schlange. Hier im Süden geht halt alles ein wenig ruhiger zur Sache. Hemmungslose Lästereien mit einem ebenfalls Wartenden entspannten den Situation etwas, doch so langsam wollten wir unsere Reise endlich fortsetzen. Dabei dachten wir, dass ein vorbestelltes und vorausbezahltes Fahrzeug abzuholen so schwierig nicht sein kann. Alle Daten wurden bereits 4 Wochen zuvor in Deutschland erfasst, gespeichert, gesichtet und gegengecheckt, letztlich vermutlich auch an NSA, CIA, MI5, Mossad und KGB übermittelt (echte Freunde teilen alles miteinander), dort mindestens zweimal gespeichert (sicher ist sicher) und nach auffälligen terrorismusrelevanten Merkmalen dreifachgeprüft. Ein deutscher Ingenieur will auf Kreta Urlaub machen! Mit der ganzen Familie! Verdächtig, verdächtig … Doch was sollte einen griechischen Beamten daran noch interessieren? Dennoch dauerte es besagte Stunde, bis wir endlich den Schlüssel in der Hand hielten. Die Weisungen zum Standort des Fahrzeuges erinnerten entfernt an das Leben des Brian: Durch die Tür, über die Straße, dann links, es fehlte nur noch ein vernehmliches „jeder nur ein Auto“.
Die Reise nach Stalos verlief dank des mitgebrachten und vorbereiteten Navis wiederum sehr entspannt, auch wenn die Fahrweise der Griechen ein wenig gewöhnungsbedürftig ist. Blitzer werden weit im Voraus angekündigt, schienen aber — besagter Fahrweise der hier Lebenden entsprechend — in der Vorsaison noch nicht aktiviert zu sein. Das eigentliche Abenteuer aber begann in Stalos selbst. Auch wenn die Anfahrtbeschreibung mangels vorhandener Straßennamen bebildert war, so waren diese gelinde gesagt suboptimal. Eine Autovermietung in Stalos, die wir um Hilfe ersuchten, lieferte dann einige entscheidende Hinweise.
Ein älterer Herr identifizierte eine Kreuzung auf einem der Fotos, was uns in die Lage versetzte, einige weitere Versuche zu machen. Wir hätten nur an der Autobahnausfahrt rechts statt links fahren müssen. Leider waren auch die Fotos und die weitere Beschreibung nicht so ganz eindeutig. Wenn von „geradeaus weiter fahren“ die Rede ist, die Straße sich aber Y-förmig gabelt, hat man eine 50:50-Chance, die falsche zu erwischen, was uns dann auch mehrfach gelungen ist. So lernten wir die wenig anheimelnde Umgebung von Stalos besser kennen, bis wir letzten Endes dann doch einmal die richtige Abfahrt erwischten. GPS-Koordinaten wären sicherlich erheblich hilfreicher gewesen (N35.49617, E23.94496).
Die eigentliche Überraschung des Tages war jedoch ein Händler in Stalos, bei dem wir spontan einige Lebensmittel kauften. Bezüglich unserer Bargeldbestände hatten wir uns um knapp 10 Euro verschätzt. Doch er nahm das ganz locker und sagte, wir könnten ihm den Rest auch morgen bringen. In Deutschland wäre das mit viel Glück vielleicht in einem Laden möglich gewesen, bei dem man Stammkunde ist. Aber einem völlig Fremden, noch dazu klar als Tourist zu erkennenden, würde dieses Vertrauen sicher kein deutscher Händler entgegenbringen. Südeuropa ist einfach anders. Auch das ist etwas, das man von einer Reise mitbringen kann: Die Erkenntnis, dass nicht jeder Mensch das Universum mit den gleichen Augen sieht.