Fremde Welten und ihre Zivilisationen

Ein Denker

Es sind seltsame Gebilde, die Adrián Villar Rojas auf den Weinberg-Terrassen zeigt. Manche scheinen einfach nur geometrische Formen zu sein, andere sind reale Szenen, wenngleich ein wenig surrealistisch dargestellt. Bestenfalls könnte man sie „phantasievoll“ nennen, vielleicht aber auch psychotisch. Auf jeden Fall ist dieser Künstler von einem gewissen Schaffensdrang getrieben, denn die Weinbergterrassen sind voll von seinen Werken.

Allen gemeinsam ist die filigrane, zerbrechliche, gezielt auf „alt“ getrimmte Oberfläche. Kalkartiges Material, wie von antiken Bildhauereien bekannt, mit den ebenfalls bekannten Zestörungen. Man fühlt sich wie in einer fremden Welt, ohne genau sagen zu können, welche innere Entfernung man zurücklegen müsste, um diese zu erreichen. Oft überdimensional, scheinen stellenweise Träume Pate gestanden zu haben. Man fühlt sich wie die Captains Kirk oder Picard, deren nahezu unerfüllbare Aufgabe es ist, eben diese fremden Welten und ihre Zivilisationen zu entdecken, wenn sie nicht gerade das Universum retten müssen. So ist eine Variante des Todessterns aus „Krieg der Sterne“ ebenso vorhanden wie ein merkwürdiges blasenförmiges Wesen mit jeweils zwei Tentakeln vorn und hinten, dessen Versuch die Erde zu erobern vermutlich an einem zu engen Durchgang gescheitert ist.

Da gibt es eine dem „Denker“ von Auguste Rodin nachempfundene Gestalt, die entgegen dem Original auf einer nicht vorhandenen Toilette zu sitzen scheint. Eine real wirkende Frau, die ein Ferkel säugt kommt ebenso vor wie der im Vergleich dazu überdimensionale Knochen, auf dem sie sitzt. Andere Figuren sind einfach nur geometrischer Natur wie die beiden korrespondierenden Drei- und Achtecke oder der offene Kreis. Ein Paar aus einer in einem Liegestuhl liegenden Person, die von einer davor stehenden Figur augenscheinlich beäugt wird. Die Fotografie mit der Besucherin, die gleiches mit der stehenden Figur tut, bringt wieder eine herrlich menschliche Komponente hinein und führt die abstrakte Kunstwelt zurück in das Alltägliche, was zum wiederholten Male meine Theorie der Besucher als die wahren Kunstwerke der documenta zu bestätigen scheint.

Betrachtet man die verzerrten Größenverhältnisse, dann schleicht sich der Eindruck in mein Bewusstsein, dass hier vielleicht nicht alle Objekte im gleichen Maßstab dargestellt werden. Der Mini-Todesstern ist in „Wahrheit“ viel größer als wir selbst, während die riesige Blase vielleicht eine Mikrobe darstellt. Vielleicht stimmt auch etwas mit der Zeitlinie nicht, möglicherweise sehen wir einen Augenblick einer Zivilisation, deren Leben noch in voller Blüte steht, für die die Zeit jedoch einfach nur so viel langsamer vergeht, dass ihre Bewegungen für uns nicht wahrnehmbar sind.

Am oberen Ausgang dann steht eine Ansammlung von Glocken, die weitestgehend realistisch wirken, wenngleich schon mit dem einen oder anderen Makel behaftet, wo der Zahn der Zeit sein zerstörerisches Werk getan hat. Aber auch hier gibt es Ausnahmen, so dass eine Glocke zum Beispiel an einer Seite ein Loch hat, während auf der gegenüberliegenden Seite das fehlende Material in einer Spitze herausgetrieben wurde.

Zum Abschluss der Glocken dann wieder ein Bruch in der Linie: Ein Boot mit einem Paar, er mit entblößtem Unterkörper, dessen angedeutete sexuelle Intentionen durch die Diskrepanz zwischen seiner Erwartungshaltung und ihrer voller Abscheu dargestellten Verweigerung vielleicht die Grenzen der Phantasie aufzeigen sollen und den Brückenschlag zur realen Welt mit all unseren niederen Instinkten versuchen will. Die vollkommen reale Katze in diesem Boot, so zufällig sie auch dort aufgetaucht sein mag, vollendet diesen Brückenschlag, so dass auch der Besucher wohl keine Schwierigkeiten hat, wieder in seine eigene Welt zurück zu finden. Diese Welt, in der wir leben, kommt uns ja oft genug nur allzu fremd vor und erscheint daher paradoxerweise fast ebenso vertraut wie die exotischen Kunstwerke.

Wofür dies alles steht könnte ich mit meinem künstlerischen Laienverstand kaum ermessen. So muss wieder einmal der documenta-Katalog herhalten. Dieser versetzt die Figuren gedanklich in eine vergangene oder zukünftige Zeit und erklärt, dass alle Werke von Villar Rojas am Ende der Ausstellung zerstört werden. Es scheint, als ob dieser Prozess bereits mit Beginn der Ausstellung nicht erst begonnen hatte, sondern wir uns am Ende einer unvorstellbar langen Periode der Zeit befinden und quasi das letzte Aufbäumen einer aussterbenden Zivilisation miterleben, die letzten 100 Tage.

So bleiben die Figuren zum großen Teil das, was sie zu sein scheinen: Relikte aus längst vergangenen Zeiten, verwittert, versteinert, durch irgendeine nicht genannte Naturkatastrophe in einem spezifischen Augenblick ihrer früheren Existenz eingefroren. Ihre Zeit ist vorbei. Am Ende stellt sich die Frage, was von uns einmal übrig bleiben wird, wenn unsere Zeit gekommen ist.

Adrián Villar Rojas, #179 (Katalog S. 440)
Weinberg-Terrassen
Geo (Eingang): N51.30815 E9.48883

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